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Ray Wilson / Makes Me Think Of Home – CD-Review

Meeresrauschen, im Hintergrund spielt ein versteckter Dudelsack – ist das "Scotland The Brave"? Ein sich ganz allmählich steigernder, noch undifferenzierter Geräuschpegel mündet in eine glasklar akzentuierte Gitarre, die dir sogleich eine Gänsehaut verschafft. Mit nur ein paar Akkorden. Das sind die wahren Künstler, die Emotionen mit nur wenigen Tönen produzieren können. "They Never Should Have Sent You Roses", inzwischen bekannt durch das Video, startet in einem Stimmungs-Modus, der mich ganz massiv an den unbeschreiblichen Auftakt zu U2s Jahrhundertwerk "The Joshua Tree" erinnert. "Where The Streets Have No Name", obwohl sich bei einem authentischen Musiker wie Ray Wilson solche Vergleiche eigentlich verbieten. Ist halt nur eine Assoziation, um die Atmosphäre zu beschreiben. Ein Ausrufezeichen direkt zu Beginn, eine dramatische Geschichte um eine scheiternde Beziehung. Über die möglicherweise autobiografischen Züge des Inhalts spekulierte Ray in der Ankündigung zum entsprechenden Video recht kryptisch, es bleibt beim Betrachter zu erahnen, was fiktiv und was erlebt ist. Für die nachhaltige Wirkung dieses gefühlsbetonten Songs sollte das keine Rolle spielen.
The Bodeans aus den Staaten haben einst recht ähnliche Songs hingelegt. Sonderlich bekannt sind sie heute nicht mehr, ich liebe sie immer noch dafür. Ray erinnert mich, warum.

"The Next Life" kommt mir vor wie ein Flashback aus dunklen Tagen an der Theke, das Whisky-Glas vor dir und eine Menge düsterer Gedanken. »I don’t want you to see me crawling into the next life«. Nicht nur alte Menschen vor dem nahenden Ende werden schon einmal auf diesen Pfaden unterwegs gewesen sein. Wohl dem, der noch nie so denken musste, allzu viele werden es nicht sein.

Ray Wilson versteht die Authentizität seiner Live-Auftritte in eben solche Texte zu verwandeln. Einer, der erlebt hat, im Guten wie im Schlechten, der irgendwie so ist wie Du und ich – und einer, der uns schöner und netter davon erzählen kann als wir es selbst vermögen.

Und dann "Worship The Sun". Diese fast undergroundartigen Riffs, Rays fantastische Stimme, irgendwie fühle ich mich willkommen in einem Traum zwischen Seattle und Glasgow. Ein bisschen Walkabouts, ein bisschen Runrig und dazu ein leidenschaftlicher Gesang, der auch in den gefälligen Rhythmen jede Nuance an gefühlsbetonter Musik herausholt. Radiotaugliche Musik mit Maximum Emotion. Schön und ausgewogen ausbalanciert zwischen Marcin Kajpers herrlichem Saxophon und den mitreißend statischen Gitarrenklängen. Wieder eine gescheiterte Beziehung, ohne Schuldzuweisung, ohne Zorn. »You and I are the same, cold and unapproachable and distant, and no one is to blame…just worship the sun«

»Wenn du in der Kälte erstarrst, verehre die Sonne.« Eine wunderschöne und traurige Ballade.

Gut vorbereitet gleiten wir in den alles überragenden Titelsong, der mich schon beim Live-Konzert im Juli so ungeheuer mitgerissen hat. Es ist Zeit für "Makes Me Think Of Home", bislang mein Song des Jahres 2016, Warren möge mir verzeihen.
Ein spärliches Piano und Rays melancholische Stimme prägen das Grundgerüst des Songs. Mitreißend, dramatisch, zeitlos und bedeutend. Voller Pathos steigt die Band nach kurzem Interlude in die schlichte Harmonie ein und erzeugt eine tiefe Intensität.
Ein Break, ein Rückgriff auf das Intro mit einem fast artrockartigen Unterton, wie ihn einst David Sylvian so trefflich zu inszenieren verstand. Und ein wunderbares kurzes Zwischenspiel zwischen akustischer Gitarre und Flöte, fast ein wenig wie in Supper’s Ready, dem vielleicht edelsten Stückchen progressiver Musik. Aber nur, um in einem Breakout aus Lead Guitar und Saxophon ekstatisch abzufahren, bevor der Song in seinem unwiderstehlichen Grundthema und einer dezent reflektierten Meditation in ein stilles Nirwana mäandert.

"Amen To That" nimmt mit seinem Titel fast ein wenig Gospel-Feeling auf und treibt mit herrlich folkloristischer Klampfe in einen überaus massentauglichen Song, mit dem die Funkhäuser weltweit nicht falsch liegen können. Überhaupt ist das ein Verdienst allererster Güte von Ray Wilson, auf diesem Album wunderschöne, Folk-behaftete Sounds in mal dramatisch emotionale Momente, dann wieder in fast schon poppige Rhythmik einschwenken zu lassen, ohne auch nur einen Moment an Glaubwürdigkeit und Konzeption zu verlieren. Eben genau so, wie wir in Duisburg diesen ehrlichen Menschen immer wieder live auf der Bühne haben erleben dürfen. Ray Wilson und Duisburg, das passt irgendwie zusammen. Hab ich schon einmal behauptet.

Am Ende widmet sich Ray zunächst einer verträumten Story aus frühen Kindertagen, als wir uns die Welt in der wir leben wollten noch selbst zu erschaffen in der Lage waren und unsere besten Freunde mitunter aus Plüsch und Holzwolle bestanden. Meiner hieß übrigens 'Der Chef'. Wenn ich mir den Text und das dazugehörige Foto im liebevoll gestalteten Booklet anschaue, möchte ich vermuten, dass Ray hier über seine eigene Kindheit reflektiert.

Doch am Ende schenkt er seine Gedanken den Unverstandenen und Unakzeptierten, die ihren Traum für sich alleine leben. Vielleicht eben auch denjenigen, die den Zeiten der Stofftiere nicht entkommen sind, was einen nachdenklichen Konsens zum vorausgegangenen Titel schafft. Somit aber auch eine Hymne für all die Träumer und ihre Hoffnungen, diejenigen, die sich nicht in die Schemata einer allzu modernen Welt einpferchen lassen wollen.
Hinausreiten in den Sonnenuntergang, so wie ein Cowboy. Welches Kind mag nicht davon geträumt haben. Manche eben ein Leben lang. Ein melancholischer Ausklang, stilgerecht und voller Poesie, wie die letzte Klappe eines klassischen Westerns.

"Makes Me Think Of Home" ist, wie der Titel schon vermuten lässt, eine wunderbare Parabel auf Reflektion und Verlust, auf Träume und Hoffnung und vor allem auf die Liebe. Und immer mit einem tiefen Empfinden für die eigene Heimat, fernab von verkitschten Vorstellungen dieses so leidgeprüften und in unserem Land missbrauchten Begriffs. Heimat ist kein Ort, kein Land, kein Volk, sondern das, woraus du dich definierst, entwickelt hast, wo du geliebt und gelebt und gelacht und gelitten hast. Da, wo du hin gehörst. Berührende Themen, vorgetragen von einem zeitgemäßen Barden, der die Klaviatur emotionaler Musik aufs Trefflichste versteht. Begleitet von einer Garde großartig agierender Kollegen, immer wieder auf dem soliden Boden Folk gestützter Rockmusik, mit progressiven Einflüssen ebenso unterstützt wie geschickt verpackten Underground-Sounds, die man auch bei Stiltskin einst gefunden hat. Ray Wilson liefert ein zutiefst ehrliches Werk ab, mit ganz viel Herz und Seele und vor allem mit einem unschlagbarem Gefühl für Musik, die dich in deinem Zentrum trifft. Eine musikalische Weiterentwicklung aus seinen Band orientierten Wurzeln und seinen ganz persönlichen Ambitionen. Geh den Weg mit ihm, folge seinen Gedanken und Geschichten und du lernst vielleicht, dich selbst zu begreifen. Mehr kannst du von einem Musiker nicht verlangen.


Line-up Ray Wilson:

Ray Wilson (vocals)
Uwe Metzler (acoustic and lead guitar)
Lawrie Mc Millan (bass)
Nir Z (drums)
Kool Lyczek (piano and organ)
Peter Hoff (keyboards, additional programming)
Ali Ferguson (lead guitar)
Marcin Kajper (saxophone, flute)
Steffi Hoelk (violin)
Scott Spence (guitar, string arrangements)
Steve Wilson (backing vocals)
Mario Koszel (percussion)

Tracklist "Make Me Think Of Home":

  1. They Never Should Have Sent You Roses
  2. The Next Life
  3. Tennessee Mountains
  4. Worship The Sun
  5. Makes Me Think Of Home
  6. Amen To That
  7. Anyone Out There
  8. Don’t Wait For Me
  9. Calvin And Hobbes
  10. The Spirit

Gesamtspielzeit: 47:05, Erscheinungsjahr: 2016

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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