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Brecht/Weill / Die Dreigroschenoper – LP-Review

Die Dreigroschenoper - Review

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Am 31. August 1928 wurde "Die Dreigroschenoper" im Berliner Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführt. Im Frühjahr 1928 hatte Bertolt Brecht dem neuen Theaterdirektor Ernst Joseph Aufricht das halbfertige Manuskript als Vorschlag für die erste Aufführung zur Wiedereröffnung des Theaters vorgestellt. Es basierte auf der "Beggars Opera" von John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik) aus dem Jahr 1728 und war von Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann ins Deutsche übersetzt worden. Auch Lieder von Francois Villon flossen in die Bearbeitung ein. Brecht hatte Kurt Weill als Komponist an der Seite, mit dessen Frau Lotte Lenya und Elisabeth Hauptmann erstellten sie die Urfassung bei einem Aufenthalt an der französischen Riviera. 'Vergessene' Namensnennungen sorgten für Kritik und Plagiatsvorwürfe… schmälerten aber nicht den Erfolg. Und der war gewaltig. 1929 wurde "Die Dreigroschenoper" bereits an 19 deutschen Theatern, sowie in Wien, Prag und Budapest gespielt; 1933 von den Nazis verboten. 1958 wurde die vorliegende Schallplatte mit Lotte Lenya als Jenny und künstlerische Leitung, Wolfgang Neuss als Moritatensänger und Erzähler, Willy Trenk-Trebitsch, Erich Schellow, Johanna von Koczian, Wolfgang Gruner und dem Orchester Freies Berlin (mit Dirigent Wilhelm Brückner-Rüggeberg) aufgenommen. Uralter Kram, der keinen mehr interessiert?

Mackie Messer und Seeräuber-Jenny

Die Geschichte um die Bettler, Huren und Kriminellen im Londoner Stadtteil Soho hat wenig an Aktualität verloren. Die "Moritat von Mackie Messer", das "Lied von der Seeräuber-Jenny", die "Ballade vom angenehmen Leben" oder die "Ballade über die Frage: »Wovon lebt der Mensch?«" sind immer noch relevant. "Mack The Knife", ob nun in Gestalt von Harald Paulsen, Erich Schellow, Horst Tappert, Louis Armstrong, Frank Sinatra, Tom Waits, Sting oder gar Campino ist heute so lebendig wie 1928. Dabei entstand dieser Song nur, so wird überliefert, weil der erste Darsteller Harald Paulsen, kurz vor der Aufführung eine bessere Einführung seiner Figur wünschte. Brecht hat diese legendär gewordene Moritat getextet und Weill hat sie über Nacht vertont. Und Hand aufs Herz – er hat damit doch diesen Typ, dem man nie was nachweisen kann, genau auf den Punkt gebracht. Wie sehr Brechts Texte in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind, wird nicht nur beim oben schon bemühten »Erst kommt das Fressen, dann die Moral« deutlich, auch »…die im Dunkeln sieht man nicht« ist zum geflügelten Wort geworden. Wie sehr Weills Kompositionen bis heute die Musikwelt beeinflussen wird nicht nur daran deutlich, dass Doors und Bowie (und viele andere mehr) seine Songs interpretierten. Ganz oft geht es mir so, dass ich Songpassagen unterschiedlichster Künstler höre und dabei an Weill denke – nicht im Sinn von Imitation, sondern als Einfluss. Weill verbindet Jazz mit Tango und Jahrmarktsmusik; lässt Oper und Operette einfließen, gestaltet das Ganze dabei aber auch schräg und atonal. In ihrer Eigenwilligkeit fasziniert und inspiriert "Die Dreigroschenoper" (wie auch "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny") nicht nur Musiker bis heute.

Ein guter Mensch sein! Ja wer wär’s nicht gern?

Im Vergleich zu Aufnahmen aus der Entstehungszeit der "Dreigroschenoper" erscheint mir die Aufnahme von 1958 fast ein wenig zu glatt. Das mag jedoch purer Nostalgiegedanke sein, denn die Aufnahmen entstanden unter Lotte Lenyas künstlerischer Leitung. Sie beharrte darauf, diese erste vollständige Aufnahme so originalgetreu wie möglich einzuspielen – sprich nach der Partitur und den Vorgaben hinsichtlich Instrumentierung ihres 1950 verstorbenen Mannes, Kurt Weill. Doch egal, ob nun originalgetreu als Originalaufnahmen aus den Endzwanzigern, dieser Ausgabe aus den Endfünzigern oder auch Versionen der Neuzeit, "Die Dreigroschenoper" rockt noch heute. Insbesondere inhaltlich.

Das Recht des Menschen ist’s auf dieser Erden
Da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein
Teilhaftig aller Lust der Welt zu werden
Zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein.

Tja, es könnte ja so einfach sein. Wenn wenigstens die letzte Zeile für alle Menschen erfüllt wäre, dann wären wir ja womöglich schon einen Schritt weiter als noch vor knapp hundert Jahren. Die Realität sieht anders aus: Tafeln vor der Haustür, Hungersnöte überm gar nicht ganz so großen Teich, Glücklichsein ist Privat- und Glückssache.

Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höhres Streben
Ist ein schöner Zug.

Klingt irgendwie verdammt sarkastisch, oder? Geradezu zynisch mag das Ende erscheinen, wenn Mackie Messer mit all seinen Untaten nicht hingerichtet, sondern in letzter Minute in den Adelsstand erhoben wird. Da könnte man doch glatt in Versuchung kommen, beim Anhören dieses Werkes (oder danach) darüber nachzudenken, wie viel der Brecht’schen Gesellschaftskritik heute noch ihre Berechtigung hat… Doch bevor ich das jetzt weiter ausführe, lege ich lieber nochmal dieses schöne, edle, schwarze Gold auf den Plattenteller und denk mir meinen Teil – nicht ohne euch einzuladen, euch dieses 'olle Zeug' mal mit offenen Ohren zu Gemüte zu führen.


Line-up

Wolfgang Neuss (Moritatensänger)
Willy Trenk-Trebitsch (Herr Peachum)
Trude Hesterberg (Frau Peachum)
Erich Schellow (Macheath)
Johanna v. Koczian (Polly Peachum)
Wolfgang Grunert (Tiger Brown)
Inge Wolffberg (Lucy)
Kurt Hellwig, Paul Otto Kuster, Josef Hausmann, Martin Hoeppner (4 Gangster)
Orchester Sender Freies Berlin unter Leitung von Wilhelm Brückner-Rüggeberg

Tracklist "Die Dreigroschenoper"

Side A

  1. Overture
  2. Die Moritat von Mackie Messer
  3. Der Morgenchoral des Peachum
  4. Anstatt-Dass Song
  5. Hochzeitslied für ärmere Leute
  6. Kanonensong
  7. Liebeslied
  8. Der Song vom Nein und Ja (Barbara-Song)

Side B

  1. Die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse
  2. Der Pferdestall
  3. Pollys Abschiedslied
  4. Zwischenspiel
  5. Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit
  6. Die Seeräuber-Jenny oder Träume eines Küchenmädchens

Side C

  1. Die Zuhälterballade
  2. Die Ballade vom angenehmen Leben
  3. Das Eifersuchtsduett
  4. Kampf um das Eigentum
  5. Ballade über die Frage: Wovon lebt der Mensch?

Side D

  1. Das Lied von der Unzulänglichkeit
  2. Salomon Song
  3. Ruf aus der Gruft
  4. Ballade in der Macheath jedermann Abbitte leistet
  5. Der Reitende Bote
  6. Dreigroschen-Finale
  7. Die Schluss-Strophen der Moritat

Über den Autor

Sabine Feickert

Hauptgenres: Rock, Deutschrock, Mittelalter, 'leise Töne'
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Mail: sabine(at)rocktimes.de

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